Irreduzible Komplexität und Wahrscheinlichkeit

Einleitung
In seinem Beitrag Irreduzible Komplexität und Wahrscheinlichkeit aus „Kreationismus in Deutschland“, welcher in Auszügen auf der Homepage der AG Evolutionsbiologie veröffentlicht wurde, setzt sich Martin Neukamm mit der Wahrscheinlichkeit auseinander, mit der Gene bzw. irreduzible Systemte evolutiv entstehen können und versucht die Argumente von Evolutionskritikern zu entkräften. Im folgenden soll sein Text näher untersucht und die Stichhaltigkeit der Argumente geprüft werden.

Die Entstehung von Genen
Bezüglich der Entstehung von Genen zitiert Neukamm aus „ARTBEGRIFF, EVOLUTION UND SCHÖPFUNG“ (V. 1.1 D) von W.-E. Lönnig (Zitat im folgenden etwas umfangreicher als bei Neukamm, damit die komplette Argumentation von Dr Lönnig erkennbar ist):

Über ein Drittel der Aminosäurenpositionen ist also bei den untersuchten Arten identisch. Da die Cytochrom-c-Moleküle der Wirbeltiere 104 Aminosäurenreste besitzen, sind mindestens 34 Positionen konstant. „Konstant ist weiter die Lage der Hämgruppe, die immer an den Aminosäurenresten 14 und 17 verankert ist“ (Remane/ Storch/ Welsch 1980, p. 67, in Übereinstimmung mit Geissler et al. oben). Da aber auch in den veränderlichen Regionen die Austauschbarkeit meist begrenzt ist, nehmen wir für das erste funktionsfähige Cytochrom-c-Molekül eine längere spezifische Sequenz an. Wie groß ist aber nur einmal die Wahrscheinlichkeit der zufälligen Entstehung eines Polypeptids mit 34 konstanten Positionen?

Die Antwort lauted: 1 : 20^34 = 1 : 171 798 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 und auf der DNA-Ebene (bei Einbeziehung von maximal 20 % neutralen Mutationen- was in Wirklichkeit zu hoch ist) 1 : 481 = 1 : 5 846 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000. Mit einem Wort: nach allen vorliegenden Daten zu glauben, dass ein solch spezifisches Molekül durch Zufall entstanden ist, ist eine Glaubensinvestition mit geringer Aussicht auf Kongruenz mit der Realität. Der gezielt-intelligente Ursprung solcher Sequenzen ist wahrscheinlicher.

und merkt dazu an:

Lönnig (1986) versucht die Situation so darzustellen, als sei die zufällige Entstehung (…), astronomisch unwahrscheinlich.

Anschließend kritisiert er die Annahmen, die Lönnig zu diesem Ergebnis führten. Diese Kritik ist größtenteils nachvollziehbar und Lönnigs Rechnung sicherlich angreifbar. Allerdings folgt im Anschluss an die Kritik:

Zu ähnlichen Einschätzungen bezüglich der Wahrscheinlichkeit funktionaler Proteine gelangen Junker und Scherer (2006, S. 126).

und weiter unten:

Diese Beispiele genügen, um zu demonstrieren, dass es nicht möglich ist, die Wahrscheinlichkeit eines evolutionären Ereignisses nach der „Kopf-Adler-Statistik“ eines Münzwurfspiels (Eigen 1983) abzuschätzen. Die Evolutionsgegner multiplizieren und potenzieren in einer Art und Weise, dass darüber die Voraussetzungen vergessen werden, unter denen solche Berechnungen aussagekräftig wären. Weitere Gegenargumente zu diesen Zahlenspielereinen finden sich bei Kutschera (2006, S. 248).

Er wirft also Lönnigs und Junker/Scheres Rechnung in einen Topf und verweist hier zusätzlich auf Ulrich Kutscheras Buch „Evolutionsbiologie“ wo der Autor angeblich weitere Gegenargumente liefern würde. Tut er das aber wirklich? Die Antwort lautet: Nein. In einem Beitrag auf der Homepage von Wort und Wissen setzt sich Reinhard Junker mit Kutscheras Behauptungen bzgl. Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinander. Er schreibt dazu:

Er (Kutschera, mb) kritisiert dies (die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mb) mit dem Hinweis, dass evolutionstheoretisch ja nicht angenommen werde, dass eine solche Abfolge in einem einzigen Schritt erreicht werden musste. Außerdem seien in der Evolution nicht von vornherein ganz bestimmte Abfolgen (spezifische Sequenzen) als Ziele vorgegeben gewesen, die dann zufälligerweise hätten erreicht werden müssen.

ähnlich argumentiert Neukamm in seinem Beitrag:

muss die Evolution auch kein bestimmtes Ziel „anvisieren“. Es genügt ja schon, wenn das Protein irgendeine Funktion als Elektronenüberträger (oder eine beliebige andere Funktion) besitzt, die den Organismen einen Überlebensvorteil bietet.

Den von Kutschera/Neukamm angemerkten Punkten ist auch zuzustimmen. Evolution visiert weder ein Ziel an noch darf angenommen werden, dass die heutigen komplexen Gene mit voller Funktion in einem Schritt enstanden sind. Die Sache hat nur einen Haken: Junker und Scherer haben in ihrem Lehrbuch nie etwas anderes behauptet, was Reinhard Junker auch ausdrücklich betont:

Dies ist genau die Kritik, die Scherer in seinem Buch auch darlegt, um anschließend einen ganz anderen Weg zu gehen; ebenso wird auch im „kritischen Lehrbuch“ vorgegangen. U. Kutschera hat die vorliegenden Ausführungen vollkommen verdreht wiedergegeben und behauptet das Gegenteil dessen, was dort tatsächlich gesagt wird.

Diese Aussage Junkers lässt sich durch Lesen von Abschnitt 9.4 „Entstehung einer molekularen Maschine durch Evolution“ im kritischen Lehrbuch ab Seite 155 leicht nachvollziehen.
So wie Kutschera in seinem Lehrbuch gibt auch Neukamm in seinem Beitrag die Aussagen von „Evolution – Ein kritisches Lehrbuch“ verdreht wieder und macht es sich somit einfach sie zu anzugreifen. Neukamm tut hier etwas, was er sehr gerne bei anderen moniert: Er baut sich ein Strohmann-Argument auf, dass sich leicht widerlegen lässt. Eine genauso beliebte wie unfaire Vorgehensweise.
In diesem Zusammenhang sei nochmal aus Junkers Widerlegung der Kutscheraargumente zitiert:

Das wiegt umso schwerer, als Herr Kutschera auf diese Verdrehung bereits im Jahr 2001 anlässlich der Herausgabe der 1. Auflage seiner „Evolutionsbiologie“ hingewiesen wurde.

Das heißt auch Neukamm weiß seit sechs Jahren was wirklich in „Evolution – Ein kritisches Lehrbuch“ steht.

Der Bakterienmotor
Den letzten Teil seiner Arbeit widment Neukamm der Diskussion der Entstehung des Baktierenmotors und beginnt diesen mit:

Auch die vielfach angestellten Berechnungen, die veranschaulichen sollen, dass komplexe Strukturen, wie z.B. ein Bakterienmotor (Abb. 5.5), kaum evolutionär entstehen können, gehen an der Sache vorbei. Denn was bedeutet überhaupt die Feststellung, dass ein solches Merkmal irreduzibel komplex sei? Doch nur, dass die schrittweise Entstehung der einzelnen Strukturproteine des Merkmals in Bezug auf die Endfunktion des Systems nicht positiv selektierbar ist.

Hierbei lässt er außer Acht (bzw. verschweigt es seinen Lesern), dass in „Evolution – Ein kritisches Lehrbuch“ ebenfalls erwähnt wird, dass man bei einem irreduzibel komplexen System nicht annimmt, dass alle seine Bestandteile gleichzeitig oder überhaupt von Grund auf neu evolviert sind:

Evolutionsbiologen nehmen an, dass die erforderlichen Motorproteine durch den Umbau von schon vorhandenen ähnlichen Proteinen mit einer vorher anderen Funktion erzeugt worden sind. (S.158)

Es werden auch Beispiele von Proteinen im IRC System Bakterienmotor genannt, die aus anderen System übernommen wurden, also schon vorhanden waren und nicht mehr neu entstehen mussten (S.158, 9.4.2). Die Behauptung „Doch nur, dass die schrittweise Entstehung der einzelnen Strukturproteine des Merkmals in Bezug auf die Endfunktion des Systems nicht positiv selektierbar ist“ wird nirgendwo aufgestellt.

Das bemerkenswerteste an Neukamms Auszug ist für mich allerdings die Schlusspassage, in der er ein hypotetisches Szenario von Matzke zur evolutiven Entstehung eines Bakterienmotors bespricht:

Etliche Annahmen konnten inzwischen durch eine Reihe empirischer Daten untermauert werden (s. z.B. Pallen und Matzke 2006). Obwohl das Modell einige spekulative sowie in Teilen falsche (!!!) Annahmen enthält und sicher noch viele Fragen unbeantwortet lässt, sollte deutlich geworden sein, dass es gegenwärtig keine ernstzunehmenden theoretischen Einwände gegen Makroevolution gibt, sondern nur offene Detailfragen.

Hervorhebungen von mir

Also nochmal langsam: Ich habe ein Modell, das auf spekulativen bzw. noch gravierender auf falschen Annahmen beruht und das trotzdem viele Fragen nicht beantworten kann. Dennoch soll dieses Modell bewirken, dass Zweifel an Makroevolution nicht mehr zulässig sind? Dieser Schlussfolgerung Neukamms kann ich nun wirklich nicht beipflichten.

Ein Gedanke zu „Irreduzible Komplexität und Wahrscheinlichkeit

  1. Grosses Lob von meiner Seite, dein Blog gefaellt mir sehr gut
    Hoffentlich folgen noch weitere Beitraege, ich bin auf jedenfall gespannt
    Viele Gruesse, Simon

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